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Landschaften des Dazwischen

 

Daniela Wesenbergs Raumzeichen und Zeichenräume

 

Die Horizontlinie fluktuiert unmerklich wie eine Erscheinung im Dunst. Schattenhafte Ausläufer formen ihren Verlauf beidseitig in paralleler Fließrichtung nach. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich der Horizont als lang gestreckte waagerechte Leerstelle, die aus feinsten, in konträren Richtungen voneinander fortstrebenden vertikalen Pinselstrichen erwächst. Die zarten Tuschebahnen verdichten sich an dem Punkt, an dem der Pinsel aufgesetzt wurde, und verflüchtigen sich zu einem kaum noch sichtbaren Hauch am jeweiligen Ende der Linienziehungen. Ein weiter Himmel, der sich über einer skizzenhaften Landschaft wölbt, scheint vor dem inneren Auge auf: Die landschaftliche Anmutung entsteht aus einem eigentlich abstrakten visuellen Zusammenklang von senkrechten Strichen und waagerechter Aussparung, einer Wechselbeziehung zwischen Zeichensetzung und Auslassung, bei der die Präsenz des einen durch die Abwesenheit des anderen bedingt wird, und umgekehrt. In ihren Zeichnungen aus der Serie between structures von 2015 versetzt Daniela Wesenberg ein Prinzip in Schwingung, das für ihre Papierarbeiten und Skulpturen gleichermaßen zentral ist. Denn die Idee des „Dazwischen“, die sich im Titel between structures – „zwischen Strukturen“ – manifestiert, zieht sich durch ihr gesamtes Werk der vergangenen Jahre hindurch. Die Künstlerin setzt auf das beredte Schweigen Form gebender Leerräume ebenso wie auf die subtile zeichnerische oder zeichenhafte Ausdruckskraft von schwebenden Strukturen, um die herum sich „Raum“ überhaupt erst formiert. „Das, was nicht da ist, das Dazwischen“, erläutert sie, „ist genauso wichtig wie das, was da ist.“(1)


Die Zeichenräume ihrer Papierarbeiten setzen sich in den filigranen plastischen Interventionen ihrer Raumzeichen fort, die sie auch als „Zeichnungen im Raum“(2) definiert. Das verbindende Moment zwischen ihren Zeichnungen und Objekten besteht über die bewusst zum Tragen gebrachte Interrelation zwischen Linie und Zwischenraum hinaus in der Verwendung modularer Strukturen und serieller Wiederholungen, die zu immer anderen Formationen führen. Ausgangspunkt der „im Moment“(3) entstehenden Zeichnungen und Gebilde, die in einem ergebnisoffenen Prozess Gestalt annehmen, ist die Erforschung von Landschaft als Fundus von Formen und Konstellationen. Von der Künstlerin selbst aufgenommene Fotografien von beiläufigen Beobachtungen am Wegesrand dienen teils als Vorlagen: Licht-Schatten-Effekte, Spuren von abfließendem Wasser im Sand am Meeressaum, oder das Muster eines Fußbodenbelags. „Landschaft“ äußert sich in Daniela Wesenbergs Arbeiten als Andeutung, Binnen- oder Umrissform, die zwischen Natur und Kultur changierend bei der Betrachtung eine Bergkette oder auch halb organische, halb technoide Cluster evoziert.


Auch wenn landschaftliche und alltägliche Phänomene in den zeichnerischen und räumlichen „Setzungen“(4) der Künstlerin nachhallen, so bleiben diese letztlich abstrakt. Die Systeme, die Daniela Wesenburg aus getuschten, gezeichneten oder auch mit Faden gezogenen Linienstrukturen auf Papier und virtuos miteinander verbundenen Holz- oder Edelstahlstäben, Folien- und Kunststoffkonfigurationen im Raum kreiert, beziehen Spannung aus dem Spiel zwischen Fragilität und Präsenz, Offenheit und Geschlossenheit, dem Ganzen und dem Fragment, Wiederholung und Abweichung. Das Modulare befindet sich im Sinne fraktaler Ausdehnungen und Mutationen als Selbstähnliches in ständigem Wandel, in dessen Verlauf immer wieder „etwas Neues entsteht“(5). Hier zeigt sich auch ein impliziter Bezug zu der aus Deutschland stammenden, in ihrer zweiten Heimat Venezuela sehr verehrten Architektin und Künstlerin Gego (Gertrud Goldschmidt, geboren 1912 in Hamburg, 1994 in Caracas verstorben), deren Werk hierzulande erst 2013 durch eine größere Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Auch wenn sich Gegos Ansätze nicht direkt auf die Entwicklung von Wesenbergs Formensprache niedergeschlagen haben, so gibt es doch prägnante Übereinstimmungen zwischen den Positionen. Dazu gehört Gegos Auffassung von Skulptur als ein experimenteller Prozess, in dem die „Linie als Objekt, mit dem man spielt“(6) zum Einsatz kommt, oder auch die Feststellung, dass „manchmal das, was zwischen den Linien ist, genauso wichtig ist wie die Linie selbst.“(7) Letzteres Prinzip steht auch im Zentrum von Daniela Wesenbergs modularen gezeichneten und konstruierten Konglomeraten, die aus einem fortgesetzten Wechselspiel zwischen dynamischen Strukturen und Leerräumen als ‚Landschaften des Dazwischen’ Gestalt annehmen.


Belinda Grace Gardner

 

(1)Die Künstlerin in einem Gespräch mit der Autorin, Hamburg, 13. September 2016.

(2)Ebd.

(3)Ebd.

(4)Ebd.

(5)Ebd.

(6)Gego zit. nach: Lisa Le Feuvre, Linien entfalten sich zu Skulpturen, in: Gego. Line as Object, Ausst.-Kat. (Hamburger Kunsthalle u. a.: 2013–2014), hrsg. v. Hamburger Kunsthalle u. a., Ostfildern 2013, S. 30.

(7)Ebd., S. 32.


Aus dem Katalog: Daniela Wesenberg, in-between

ISBN: 978-3-945772-25-6
Hrsg: Sparkassen-Kulturstiftung Stormarn, Text: Belinda Grace Gardner

Verlag Gudberg Nerger
24 Seiten, 20,5 x 25,5 cm, 2016

 

 

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Nina Lucia Groß


Einführung in die Ausstellung „in-between“ von Daniela Wesenberg in der Galerie in der Wassermühle in Trittau


Ich freue mich sehr, heute mit ein paar kurzen Worten Daniela Wesenbergs
Ausstellung in-between vorstellen zu dürfen – in-between, also das Dazwischen, meint
bei Daniela Wesenberg auch immer das Zwischen den Linien. Doch was ist das eigentlich, eine Linie?
In Balzacs Roman „Unbekanntes Meisterwerk“ wird der Linie ihre Existenz gleich
gänzlich abgesprochen: „Die Natur zeigt überall Folgen von Rundflächen, von denen
die eine die andere einhüllt. Ganz überspitzt gesagt: es gibt keine Zeichnung! ... Die
Linie ist nur das Mittel, durch das der Mensch sich Rechenschaft über die Wirkung des
Lichts auf Dinge gibt. Aber in der Natur gibt es keine Linien! Da ist alles rund und
gefüllt", das behauptet zumindest der alte Meister Frenhofer in seinem fiktiven
Zwiegespräch mit Nicolas Poussin.
Ein Blick durch das Fenster nach draußen scheint ihn zu bestätigen: was wir da sehen;
die Landschaft, der weite Außenraum, besteht aus gewölbten Flächen und Formen, die
sich in- und aneinander schieben, Ebenen, wie auch immer geformt, schaffen unsere
Welt. Daniela Wesenbergs zeichnerisches und installatives Werk hingegen verschreibt
sich ganz der einzelnen Linie, der Kontur. Mit verschiedenen Mitteln schafft sie Raum
im Zweidimensionalen oder bringt die Linie in die dreidimensionale Welt der Skulptur.
Linie und Raum, das Lineare und das Räumliche – das klingt erstmal wie ein
Widerspruch. Doch haben uns nicht schon die Geometrie-Stunden in der Schule das
Gegenteil gelehrt? Linien sind sich bewegende Punkte, sich bewegende Linien bilden
Flächen und sich bewegende Flächen bilden einen Körper. Sie bilden Raum. Was
haben wir in der Schule gemessen, gezirkelt, Linien gezogen, Linien wieder ausradiert,
Linien neu gezogen um aus der Angabe 5 abstrakter Zahlen, 5 definierter Punkte und
Größen einen Körper zu schaffen, einen flachen gezeichneten Körper im Schulheft, der
trotzdem ein Volumen, einen Raum beschreibt.
Wie die Würfel und Zylinder unserer Schulzeit sind auch die Zeichnungen von Daniela
Wesenberg begreifbar, ohne begehbar zu sein - das Spiel mit der Perspektive bleibt
bloße Suggestion.
Ausgangspunkt ihrer Arbeiten ist dabei aber keine Formel, keine Rechnung aus fixen
Größen. Genauso wenig ist es der Wunsch, die Wirklichkeit, das was wir da draußen
sehen, perspektivisch möglichst korrekt wiederzugeben – wie es die Grundlage für die
Entwicklung der ebenfalls auf Linien basierenden Zentralperspektive oder einer
Architekturzeichnung ist.
Formale Inspiration und Vorbilder für ihre Zeichnungen findet Daniela Wesenberg in alltäglichen und beiläufigen Beobachtungen – ein Schattenwurf, eine Struktur im Fußboden, versickerndes Wasser im Sand, verschiedene Oberflächen und Materialien, ein Blick auf die Straßenkarte – Zufallsmomente, die Daniela Wesenberg als fotografische Skizzen sammelt und dann in ihr System aus Abstraktion, Linie und Perspektive übersetzt. Inhaltlicher Ausgangspunkt und Antrieb ist dabei die Faszination an der Linie selbst, das Interesse an der Übersetzung des Drei- ins Zweidimensionale und umgekehrt, eine Erkundung der Wirkung von Perspektive, von Wiederholung und
Doppelung, von Überlagerung und Verdichtung, von Momenten der Symmetrie und
Asymmetrie und die Erforschung von Raum und Zwischenraum.
Mal sind die Linien aus Silberfaden gestickt, wodurch der hauchzarte Schatten, der auf
das Papier fällt, die Raumwirkung verstärkt, mal sind es feine Doppellinien aus Tusche
die mit freier Hand gezeichnet penibel parallel zueinander laufen, Geraden bilden, die
dann auf einmal brechen, ein kompliziertes Gewusel und Durcheinander, eine
zerrüttelte Struktur bilden um sich dann wieder in Geraden auszuglätten und aus dem
Bild zu laufen. Andere Male verlässt Daniela Wesenberg die Zweidimensionalität des Blattes und setzt ihre Zeichnungen in den Raum. Etwas staksige, fragile und filigrane Strukturen aus Edelstahl- oder Holzstäben wachsen dann aus dem Boden oder lehnen wie beiläufig an der Wand. Aus den Winkeln und Leisten schafft Daniela Wesenberg Räume im Raum – gerade bei ihren Objekten wird so deutlich, dass, wie sie selbst sagt, „das was nicht da ist, das Dazwischen, genauso wichtig ist wie das, was da ist“ - die Zwischenräume sind keine stummen Leerstellen, sondern sind flimmernde, flirrende Flächen, die einen Raum umspannen. Sowohl ihre Objekte als auch die Zeichnungen bleiben dabei stets unbestimmt, sie illustrieren nichts, bilden nichts ab, lassen sich nicht als konkrete Dinge lesen.
Mal erinnern die Strukturen an Pflanzliches, Amorphes, an Flechte, Gewächse, Blätter,
Blüten oder an den Umriss eines Gebirges, den Blick auf eine abstrakte Landschaft, ein
anderes Mal erinnern sie an technoide Konstruktionen, geschliffene Edelsteine oder an
auswuchernde Kristalle, Substanzen unter dem Mikroskop oder an die automatisierte
Aufzeichnung fremder Töne und Signale. Die möglichen Lesarten changieren, sie
entziehen sich jeder Zuschreibung.
Dabei kratzen Daniela Wesenbergs Arbeiten immer am Begriff des Schönen, sie wagen sich sehr nahe an die Grenzen des allzu Dekorativen heran. Dekorativ und Schön ist hier wieder das Ausgeglichene, die Symmetrie, die Perspektive, der unser Auge folgen kann, die Regelmäßigkeit, durchbrochen von Einzighaftigkeiten – Formen, die Assoziationen aufrufen wie Kristalle, Blüten, Schneeflocken, Diamanten und Mineralien. Der Hang zu Schönheit und Schmuck liegt wohl genauso wie Daniela Wesenbergs genaue, saubere Arbeitsweise in ihrer Ausbildung zur Goldschmiedin begründet, die sie vor ihrem Studium der freien Kunst abschloss. Die Handarbeit, der hohe Stellenwert von Technik und Genauigkeit stellt Daniela Wesenberg auch in ihren künstlerischen Arbeiten in den Vordergrund.
Offen spricht sie über die Prozesse, in denen ihre Arbeiten entstehen, sie verrät ihre
Tricks: wie sie die Schablonen ansetzt, das Papier wendet, den Stift führt, welche Linien
sie aneinander setzt, wie sie in der einen Ecke beginnt und von Linie zu Linie
weiterzeichnet, ohne das Ergebnis selbst zu kennen, dass sie Pausen braucht um sich
wieder zu konzentrieren, um nicht verrückt und auch nicht schlampig zu werden, wie
sie die einzelnen Teile der Raumobjekte beschriftet, dass sie die Montage nur nach
ihrem eigenen Aufbauplan bewältigen kann, wie sie Teil für Teil ineinander steckt. Sie
legt die handwerkliche Systematik, die strukturelle Logik ihrer Arbeit offen. Und
trotzdem behalten die Arbeiten etwas Geheimnisvolles an sich – die unfassbare
Unermüdlichkeit der Linien, die von Blatt zu Blatt laufen, die fantastischen Gebilde und
Ansichten, die uns wie ein Déjà-Vu mit einer unbestimmten Erinnerung packen, sich
aber nicht fassen, zuschreiben und zuordnen lassen, die stillen Striche, die sich doch
irgendwie dauernd zu bewegen scheinen. Die Klarheit und Genauigkeit der Form trifft
bei Daniela Wesenbergs Arbeiten auf eine traum-artige, nebelige Unbestimmtheit im
Inhalt.
Das Flimmern der Bedeutung im Angesicht der totalen Abstraktion wird besonders in
einer ihrer neuesten Reihen deutlich, in der die Linie ex negativo am Blatt erscheint,
die Linie selbst zum „Dazwischen“ der Strukturen wird. Auf den Blättern aus dem
Winter 2015/2016 reihen sich Tuschepinselstriche mit der für sie typischen Akkuratesse
nebeneinander, ziehen sich so lang über das Blatt, bis sich die Farbe im gewellten
Papier verläuft. Das Blatt gewendet, setzt Daniela Wesenberg über die erste eine zweite Reihe an Pinselstrichen. Der Raum dazwischen bildet eine weiße Linie. Sich an Balzacs alten Meister erinnernd, denkt man dann vor dem Bild stehend: vielleicht ist das die einzige echte Linie der Natur, dort wo alle Flächen aufhören: der Horizont.






















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